Was ist Empathie, und was nicht?
- zumlorcheborn

- 8. Aug.
- 6 Min. Lesezeit

In unserer modernen Welt sprechen viele Menschen von Achtsamkeit, Respekt und dem „Verstehen“ ihrer Tiere. Doch wenn es um echte Empathie geht, herrscht oft Verwirrung. Empathie ist mehr als ein gutes Bauchgefühl oder Mitleid, sie ist eine Fähigkeit, die in der Hundeerziehung essenziell ist, aber zunehmend verlernt wird. Stattdessen dominieren Halbwissen, Projektion und Leistungsdruck. Dieser Ratgeber will aufklären, einordnen und zu echter Verbindung motivieren im Sinne eines respektvollen, tiergerechten Miteinanders.
Was ist Empathie, und was nicht?
Empathie ist die Fähigkeit, sich in die Gefühls und Erlebenswelt eines anderen Wesens hineinzuversetzen, ohne dabei die eigene Identität zu verlieren. Im Gegensatz zu Mitleid („Ich fühle Deinen Schmerz“) oder Projektion („Ich würde mich so fühlen, also tut es der Hund auch“), ist Empathie ein aktiver, bewusster Prozess: Ich beobachte, nehme wahr, versetze mich hinein und handle auf dieser Basis achtsam.
Empathie umfasst zwei Ebenen:
Kognitive Empathie: Ich erkenne, was der andere fühlt oder erlebt.
Affektive Empathie: Ich fühle mit, ohne mich zu verlieren oder zu vereinnahmen.
In der Hundeerziehung bedeutet Empathie: Ich bemühe mich, das Verhalten meines Hundes aus seiner Perspektive zu verstehen biologisch, emotional und situativ. Ich erkenne seine Bedürfnisse, seine Grenzen, seine Kommunikationsformen. Und ich handle so, dass er sich sicher, verstanden und geführt fühlt.
Warum Empathie in der Hundeerziehung entscheidend ist
Empathie ist der Schlüssel zu:
Vertrauen: Hunde spüren, ob sie ernst genommen und verstanden werden.
Bedürfnisorientierter Kommunikation: Nur wer empathisch beobachtet, kann Signale richtig deuten.
Feinfühligem Training: Statt Reiz-Reaktions-Abrichtung entsteht ein echter Dialog.
Stressvermeidung: Empathische Halter erkennen Überforderung frühzeitig.
Stabilen Beziehungen: Wer empathisch ist, schafft Bindung statt Kontrolle.
Studien zeigen: Hunde können den emotionalen Zustand von Menschen erkennen – sogar anhand von Geruch, Gesichtsausdruck und Stimme (vgl. D’Aniello et al., 2018; Albuquerque et al., 2016). Umgekehrt sind auch wir Menschen in der Lage, Hundliche Körpersprache und Emotionen zu entschlüsseln wenn wir bereit sind, hinzusehen und zuzuhören. Doch genau daran mangelt es oft.
Empathie ist nicht gleich Vermenschlichung
Viele Hundehalter meinen es gut und tun damit genau das Falsche. Sie interpretieren Hundeverhalten aus menschlicher Sicht, verwöhnen oder bestrafen nach menschlichen Maßstäben. Das ist keine Empathie, sondern Projektion. Ein empathischer Mensch fragt nicht: Was würde ich fühlen?, sondern: Was fühlt mein Hund, als Hund?
Beispiel: Ein Hund zieht an der Leine. Ein empathischer Mensch fragt sich:
Ist er überfordert? Aufgeregt? Unsicher?
Habe ich ihn vorbereitet? Bekommt er Orientierung?
Welches Bedürfnis steckt dahinter und wie kann ich ihm helfen?
Wer hingegen nur reagiert („Der will mich provozieren“, „Der tanzt mir auf der Nase herum“) verfehlt den Kern der Beziehung: Verständnis.
Empathie kann man lernen und trainieren
Empathie ist keine angeborene Gabe, sondern eine Fähigkeit, die sich entwickeln lässt durch:
Beobachtung: Körpersprache, Blick, Muskelspannung, Bewegungsmuster.
Wissen: über Hundeverhalten, Stresssignale, Emotionen, Neurobiologie.
Selbstreflexion: Was macht das Verhalten meines Hundes mit mir?
Geduld und Präsenz: Nicht bewerten, sondern da sein und begleiten.
Ein interessantes Studienfeld hierzu ist die Interartliche Empathie (z. B. von McGreevy, Horowitz, Udell u. a.): Sie zeigt, dass Menschen sehr wohl in der Lage sind, sich in artfremde Wesen hineinzuversetzen – sofern sie ihr eigenes Ego zurückstellen.
Der Mangel an Empathie ein gesellschaftliches Problem
Dein Gefühl, dass Empathie seltener wird, ist nicht unbegründet. Studien zur sozialen Kognition zeigen, dass Empathiefähigkeit in individualisierten, leistungsorientierten Gesellschaften oft abnimmt besonders, wenn Beziehung ersetzt wird durch „Funktion“ oder „Erfolg“.
In der Hundeerziehung zeigt sich das z. B. in:
Technikorientiertem Training („Er muss einfach funktionieren“)
Rigidem Anspruchsdenken („Der muss jetzt gehorchen – egal wie’s ihm geht“)
Fehlendem Zuhören („Der macht das aus Trotz“)
Gute Hundeerziehung braucht kein Dominanzdenken, keine Kontrolle durch Angst, sondern empathische Führung: klar, ruhig, achtsam, mit Orientierung und Fairness. Gerade sensible oder unsichere Hunde und dazu gehören sehr viele profitieren enorm davon.
Empathie in der Praxis: 5 konkrete Wege
Beobachte, statt bewerte. Was siehst Du wirklich? Körpersprache genau anschauen, ohne sofort zu interpretieren.
Reguliere Dich zuerst selbst Hunde spiegeln unsere Emotionen. Wer selbst ruhig ist, kann auch empathisch führen.
Frage Dich: Was will mir mein Hund sagen? Verhalten ist Kommunikation. Immer. Auch unangenehmes.
Arbeite bedürfnisorientiert, nicht kontrollzentriert. Was braucht der Hund jetzt Sicherheit, Abstand, Ruhe, Training, Spiel?
Mach Fehler aber reflektiere sie, Empathie wächst nicht durch Perfektion, sondern durch Lernbereitschaft.
Praxisbeispiel: Wenn der Spaziergang zur Herausforderung wird
Ausgangslage
Claudia hat seit einem halben Jahr einen jungen Rüden namens „Lio“, ein sensibler Tierschutzhund aus Spanien. Lio ist grundsätzlich freundlich, aber draußen sehr unsicher. Vor allem in der Stadt reagiert er ängstlich auf fremde Menschen, Fahrräder und plötzliche Geräusche. Oft zieht er an der Leine, bleibt stehen, oder bellt aus Unsicherheit. Claudia ist zunehmend gestresst, sie möchte einfach einen entspannten Spaziergang.
❌ Ohne Empathie, reaktives Verhalten
Claudia ist genervt. Sie hat es eilig, möchte Lio „endlich an Verkehr gewöhnen“. Als er bei der Bushaltestelle stehen bleibt, zieht sie ihn mit einem „Komm jetzt!“ weiter. Als er bellt, sagt sie: „Jetzt hör endlich auf, es passiert doch gar nichts!“ Sie schimpft und wirkt innerlich angespannt. Lio wird noch unsicherer, beginnt zu hecheln, zieht stärker.
→ Ergebnis: Die Situation eskaliert, Vertrauen bröckelt, Unsicherheit wird verstärkt.
✅ Mit Empathie, verstehendes Handeln
Claudia atmet tief durch. Sie nimmt wahr: Lio ist angespannt, sein Blick ist fixiert, die Rute gesenkt, die Muskulatur angespannt.
Statt zu ziehen, geht sie ein paar Schritte zurück, schafft Abstand zur Bushaltestelle. Sie spricht leise und beruhigend mit ihm, wartet ab. Dann wählt sie einen ruhigeren Weg durch einen Park.
Zuhause reflektiert sie: „Für Lio war das zu viel. Ich habe ihn überfordert. Nächstes Mal plane ich eine ruhige Runde. Und wir trainieren Begegnungen in kleinen Dosen, mit Distanz und Belohnung fürs ruhige Beobachten.“
→ Ergebnis: Lio spürt: Meine Bezugsperson nimmt mich ernst, sie hilft mir. Vertrauen wächst. Claudia versteht ihren Hund besser und fühlt sich auch selbst entspannter und klarer.
Lernpunkt aus dem Beispiel
Empathie bedeutet nicht, alles durchgehen zu lassen oder jede Reaktion zu belohnen. Es bedeutet:
die Perspektive des Hundes einzunehmen,
verstehen, warum ein Verhalten entsteht, und
bedürfnisorientiert zu handeln, um dem Hund Sicherheit, Orientierung und echte Führung zu geben.
Das Ziel ist nicht, den Hund „funktionieren“ zu lassen sondern ihn in seiner Individualität zu begleiten und so zu fördern, dass er sicher und vertrauensvoll durchs Leben gehen kann.
FAQ: Empathie in der Hundeerziehung
Was bedeutet Empathie im Umgang mit Hunden genau?
Empathie bedeutet, dass Du Dich in die Gefühlswelt Deines Hundes hineinversetzen kannst ohne zu vermenschlichen. Du versuchst zu verstehen, warum Dein Hund sich so verhält, und reagierst auf seine Bedürfnisse statt nur auf seine Handlungen.
Ist Empathie angeboren oder kann man sie lernen?
Empathie ist eine erlernbare Fähigkeit. Je mehr Du über Hundeverhalten, Körpersprache und Bedürfnisse weißt und je bewusster Du beobachtest, desto empathischer wirst Du. Es geht nicht um Intuition, sondern um bewusste Achtsamkeit und Wissen.
Was ist der Unterschied zwischen Empathie und Vermenschlichung?
Empathie fragt: Was fühlt mein Hund als Hund? Vermenschlichung fragt: Wie würde ich mich fühlen, wenn ich mein Hund wäre? Der Unterschied ist entscheidend denn Hunde haben eine andere Wahrnehmung, andere Instinkte und Bedürfnisse.
Warum ist Empathie in der Hundeerziehung so wichtig?
Empathie schafft Vertrauen, stärkt die Bindung und hilft Dir, Deinen Hund besser zu führen. Sie schützt vor Überforderung, Missverständnissen und Fehlinterpretationen. Besonders sensible oder unsichere Hunde profitieren enorm von einem empathischen Gegenüber.
Wie erkenne ich, ob ich empathisch mit meinem Hund umgehe?
Stell Dir Fragen wie: Habe ich die Körpersprache meines Hundes heute bewusst wahrgenommen? Habe ich reagiert oder nur funktioniert? Habe ich ihm Orientierung gegeben oder ihn allein gelassen? Wer regelmäßig reflektiert, entwickelt echte Empathie.
Kann Empathie in der Hundeerziehung auch „zu viel“ sein?
Ja wenn sie in Überfürsorge kippt. Empathie bedeutet nicht, dem Hund alles durchgehen zu lassen. Es braucht eine Balance aus Verständnis, Klarheit und Führung. Hunde brauchen Sicherheit durch Orientierung nicht durch ständiges Nachgeben.
Gibt es Studien zur Empathie zwischen Mensch und Hund?
Ja. Neurowissenschaftliche und verhaltensbiologische Studien zeigen, dass Hunde menschliche Emotionen erkennen und sogar Gerüche unterscheiden können, die mit Gefühlen wie Angst oder Freude verbunden sind (z. B. D’Aniello et al., 2018). Umgekehrt können auch Menschen lernen, hundliche Emotionen zuverlässig zu deuten mit Empathie und Wissen.
Fazit: Empathie ist der Anfang von allem
Wer empathisch mit seinem Hund umgeht, sieht nicht nur den Hund sondern den ganzen Hund: mit seinen Gefühlen, seiner Geschichte, seinen inneren Spannungen, seiner Sprache. Empathie verlangt Achtsamkeit, Wissen und Präsenz. Sie kostet Zeit und Energie. Aber sie ist der Grundpfeiler jeder echten Verbindung und der Beginn einer Beziehung, die nicht auf Kontrolle, sondern auf Vertrauen basiert.
C. Kaul



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